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MEADS

Posted in Allgemein, Bundeswehr, Europa, NATO by analyticsdotcom on 28/07/2010

Luftverteidigung: Denken in alten Mustern

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Die Diskussionen um die Notwendigkeit Haushaltsmittel im Bundeshaushalt einzusparen nehmen nicht ab – die Finanzkrise ist ja auch noch nicht beendet. Während einige Bundesministerien wieder zurück rudern und keine Einsparmöglichkeiten sehen nach dem Motto „einsparen ja, aber bitte nicht in meinem Ministerium“, machen Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg und seine Strukturkommission ihre Hausaufgaben weiter. Die Bundeswehr wird zukünftig ein anderes Gesicht haben.

Viele Großprojekte der Bundeswehr in ganz unterschiedlichen Projektstadien stehen auf dem Prüfstand. Dazu gehört auch des geplante Luftverteidigungssystem MEADS (Medium Extended Air Defense System). Grundsätzlich besteht über die Sinnhaftigkeit von Luftverteidigungssystemen wohl bei keiner Streitkraft der Welt Zweifel. Doch es bedarf schon einer genaueren Analyse einer verteidigungs- bzw. sicherheitspolitischen Gesamtlage, um eine Aussage zur Sinnhaftigkeit in der Form substanziell zu festigen, ob Investitionen in ein Luftverteidigungssystem zu rechtfertigen sind – egal ob als Leistungssteigerung eines bestehenden Systems oder zwecks Ablösung eines bisherigen Systems. Dabei sind mehrere Einzelaspekte und Faktoren einschließlich geostrategischer und wirtschaftspolitischer Szenarien zu berücksichtigen, die letztendlich in eine Gesamtlagebeurteilung münden, ob ein System für eine Streitkraft angeschafft werden soll oder nicht.

Es gibt wohl kaum ein vergleichbares, so kontrovers diskutiertes Projekt der vergangenen Jahre, über welches so viele Studien, Analysen, Reporte, Medienberichte und Meinungsäußerungen veröffentlicht wurden wie über MEADS. Die Seitenzahlen gehen mittlerweile in die Hunderte. Die nachfolgende analytische Betrachtung soll nicht eine Sammlung aller bisher publizierten oder diskutierten Betrachtungsweisen diverser Interessenvertreter und Interessenlagen sein, sondern eine kompakte Schlussfolgerung, die einzig und allein eine vorhandene oder auch nicht vorhandene „Bedrohungslage“ versus zu schließende oder auch nicht zu schließende „Fähigkeitslücke“ der Bundeswehr als Ergebnis hat. Zunächst soll jedoch ein zusammenfassender Rückblick zur Luftverteidigung folgen, um einen leichteren, gedanklichen Einstieg in die insgesamt doch umfangreiche Materie zu ermöglichen.

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Historischer Rückblick

Zur Zeit des Kalten Krieges standen sich im europäischen Großraum von der Nordflanke der NATO in Norwegen bis hin zur Südflanke in der Türkei die Kräfte des Warschauer Paktes unter Führung der Sowjetunion und des Nordatlantischen Bündnisses unter Führung der USA gegenüber. Der jeweilige „politische Feind“ war damals auf beiden Seiten eindeutig identifiziert. Ungefähr 6,1 Millionen Soldaten und Reservisten des NATO-Bündnisses standen circa 7,2 Millionen Soldaten und Reservisten des Warschauer Paktes gegenüber.

Die Angaben über Panzer, Rohrartillerie, Mörser, Raketenartillerie, Flugzeuge und Schiffe auf beiden Seiten schwanken je nach Quelle, Zeitraum und Zählweise sehr stark, so dass hier auf Nennung von Zahlen verzichtet wird. Insbesondere die Angaben bzw. Schätzung der Ausrüstungsstärke des Warschauer Paktes zur Zeit des Kalten Krieges durch die NATO lässt Rückschließen, dass die NATO selten ein vollständiges Bild über Umfang von Material und Truppen des Warschauer Paktes hatte.

Die Luftvereidigung der NATO war gestaffelt in mehrere Verteidigungsgürtel, und zudem abhängig von  Reichweite und Einsatzhöhe bzw. Wirkmöglichkeit des jeweiligen Systems. Das galt auch für die in Deutschland aufgestellten FlaRak-Systeme.

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NIKE-AJAX

Das erste Luftverteidigungssystem der Bundeswehr war die Boden-Luft-Rakete „NIKE-AJAX“. Angetrieben wurde sie durch einem Feststoffbooster für die erste Stufe und einem Flüssigkeitstriebwerk für die zweite Stufe. Als Oxidator für das Marschtriebwerk diente hochkonzentrierte Salpetersäure, als Brennstoff spezielles Kerosin und UDMH (unsymmetrisches Dimethylhydrazin). Die Handhabung war für die Bedienmannschaft nicht einfach, da es sich sowohl um leicht entflammbare und zum Teil auch ätzende, toxische und cancerogene Substanzen handelte. Die Reichweite betrug bis circa 48 Kilometer. Sie konnte bis circa 20 km Höhe aufsteigen. Die Fluggeschwindigkeit betrug bis zu Mach 2,3 (circa 2.700 km/h bzw. 770 m/sec). Der konventionelle Gefechtskopf war dreigeteilt um eine bessere und gleichmäßig verteilte Splitterwirkung zu erzielen. Entwickelt wurde die Rakete bereits ab Mitte 1945, an die Truppe ausgeliefert in den USA ab 1954 und in Deutschland ab 1961.

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NIKE-HERCULES

Forderungen durch das Militär an einfachere Handhabung, bessere Leistung und höhere Treffgenauigkeit führten zur Entwicklung der NIKE-HERCULES. Die Entwicklung begann bereits 1952. Ab 1958 in den USA und ab 1965 in Deutschland an die Streitkräfte ausgeliefert konnte die NIKE-HERCULES mit einem konventionellen Splittergefechtskopf von 272 kg oder mit einem nuklearen Gefechtskopf mit einer variablen Sprengkraft zwischen 2 und 40 Kilotonnen (kt) ausgestattet werden. Die Reichweite lag bei zwischen 6 und 140 km. Die Bekämpfungshöhe lag bei bis zu 30 km, die Fluggeschwindigkeit betrug bis zu Mach 3,65 (circa 4.400 km/h bzw. 1.200 m/sec).

Die militärische Anforderung eine Boden-Luft-Rakete (SAM – Surface to Air Missile) wie NIKE-HERCULES für die Luftverteidigung auch mit einem Nuklearsprengkopf ausstatten zu können ergab sich aus der Fähigkeitslücke, dass zwar die anfliegenden Bomberverbände des Warschauer Paktes durch die NIKE-HERCULES mittels eines konventionellen Gefechtskopfes hätten zerstört werden können, jedoch vermutlich nicht die Atombomben selbst, die von den Flugzeugen abgeworfen werden sollten. Nur durch eine entsprechende nukleare Explosion der Luftabwehrrakete in der Nähe der Bomberverbände war somit auch eine Zerstörung der gegnerischen Kernwaffen möglich. Dass darüber hinaus die Sprengkraft eines nuklearen Gefechtskopfes von 2 Kilotonnen = 2000 Tonnen = 2.000.000 kg bzw. in der Maximalwirkung 40.000.000 kg TNT-Äquivalent eine ganz andere Zerstörungswirkung hat gegenüber einer Sprengkraft von 272 kg in einem konventionellen Gefechtskopf, versteht sich von selbst. Durch Modifikation des Zündmechanismus hätte die NIKE-HERCULES auch als Boden-Boden-Rakete (SSM – Surface to Surface Missile) eingesetzt werden können, jedoch wegen der begrenzten Reichweite nur als Kurzstreckenrakete.

Zwei Besonderheiten hätten bei der NIKE-HERCULES in der Variante mit nuklearem Gefechtskopf für den Fall des Einsatzes berücksichtigt werden müssen:

Erstens, eine Zündung des nuklearen Gefechtskopfes wäre im Luftraum über der Bundesrepublik Deutschland bzw. im grenznahen Bereich der ehemaligen DDR erfolgt. Der Fall-Out hätte sich je nach herrschender Windrichtung, sonstiger Wetterlage (Regen, Nebel) und abhängig von der Detonationshöhe Hunderte oder sogar Tausende von Kilometern vom ursprünglichen Detonationspunkt verbreitet. Da ein Luftangriff des Warschauer Paktes auf jeden Fall immer als Massenangriff geführt worden wäre, hätte dies zu Folge gehabt, dass auch ein Massenstart von NIKE-HERCULES erfolgt wäre. Die Konsequenz: Gleich unter welchem positiven oder negativem Vorzeichen eines Luftangriffs oder einer Luftabwehr – der radioaktive Niederschlag hätte sowohl Angreifer als auch Verteidiger wetterbedingt früher oder später Freund und Feind erreicht – über den gesamten Globus. Der Hinweis auf die Kernschmelze in Tschernobyl 1986, die nicht mit einer Kernwaffenexplosion vergleichbar ist, und trotzdem zu radioaktivem Niederschlag über hunderte, teils über tausend Kilometer Entfernung führte, gibt eine zumindest vage Vorstellung von dem wieder, was im Falle eines nuklearen Angriffs mit entsprechender nuklearer Luftabwehr eingetreten wäre. Dabei ist an dieser Stelle nicht einmal der zwangsläufig erfolgende nukleare Gegenschlag der NATO in weitere Betrachtungen einbezogen worden – auch mit Interkontinentalraketen.

Zweitens, spätestens seit den Kernwaffentests der USA, Frankreich, England und der Sowjetunion in den fünfziger und sechziger Jahren haben militärische Beobachter und Wissenschaftler festgestellt, dass bei einer Nuklearexplosion – sowohl bei herkömmlichen Bomben auf Basis Plutonium bzw. auf Basis Uran als auch bei den sogenannten Wasserstoffbomben – hochenergetische, elektromagnetische Impulse erzeugt werden. Diese Impulse können elektrische Netzwerke, elektrisch gesteuerte Verkehrssysteme, Kommunikationssysteme, Telefonsysteme, Energieversorgungssysteme, Radarsysteme, Computersysteme, und nahezu jegliche Art von Elektronik zerstören, falls diese nicht durch geeignete Maßnahmen geschützt werden. Ein wirksamer Schutz vor solchen elektromagnetischen Impulsen ist jedoch nicht in allen Fällen technisch möglich.

Für den denkbaren Fall des Einsatzes von Luftabwehrraketen mit nuklearem Sprengkopf wären  somit mehrere Wirkungen des elektromagnetischen Impulses zum Tragen gekommen:

  • beabsichtigte Zerstörung/der Elektronik der anfliegenden gegnerischen Flugzeuge und der mitgeführten Waffensysteme bzw. Raketen,
  • unbeabsichtigte Zerstörung eigener ziviler und/oder militärischer elektrischer Systeme unterhalb des zu verteidigenden Luftraums,
  • unbeabsichtigte Zerstörung der Elektronik der im zeitgleichen Abfangflug befindlichen, eigenen ‚Nachbar-Raketen‘ oder eigener Flugzeuge.

Auch wenn weder die Computerisierung noch die Abhängigkeit von Elektronik in weiten Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens zur Zeit des Kalten Krieges so groß waren wie in der heutigen Zeit, so wären doch deutliche, unbeabsichtigte Nebenwirkungen durch die nuklearen Gefechtsköpfe der NIKE-HERCULES zu erwarten gewesen.

Nach unterschiedlichen Quellen wurden insgesamt über 11.000 NIKE-HERCULES im Laufe der Jahre gebaut und im NATO-Gebiet stationiert. 1989 wurde der letzte NIKE-HERKULES-Verband bei der Bundeswehr außer Dienst gestellt.

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HAWK

Zur Bekämpfung von hochfliegenden Zielen (überwiegend Bomber) waren die beiden vorgenannten HERCULES-Systeme vorgesehen. Für die Bekämpfung in niedrigen und mittleren Höhen wurde das System HAWK eingeführt und sollte zur Abwehr von schnellen Jagdflugzeugen dienen. HAWK war im Gegensatz zu den beiden HERCULES-Systemen als voll mobiles System ausgelegt. Bei einer Reichweite von bis zu 25 km und einer offiziellen Einsatzhöhe von bis zu circa 10.000 m, anderen Angaben zu Folge bis zu 14.000 m, erreichte die HAWK eine Geschwindigkeit von über MACH 2,4 (circa 2.900 km/h bzw. 800 m/sec).

Während der jahrzehntelangen Nutzung des System erfolgte mehrfach eine Kampfwertsteigerung. Der konventionelle Gefechtskopf trug je nach Systemvariante und Auslieferungsland zwischen 54 kg und 136 kg. Bei der Bundeswehr ab 1963 eingeführt war das System HAWK bis 2005 in Nutzung. Zwischenzeitlich in den USA durchgeführte Abfangtests gegen ballistische Kurzstreckenraketen verliefen positiv. HAWK wurde dabei gegen das System LANCE eingesetzt. Insgesamt wurden über 30.000 HAWK-Raketen hergestellt. Die technologische Überalterung des Systems sowie zunehmende Probleme mit der Ersatzteilversorgung machten es erforderlich ein Nachfolgesystem einzuführen.

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ROLAND

Es soll der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass das System ROLAND zur Bekämpfung von tief und tiefstfliegenden Flugzeugen entwickelt wurde. In einem deutsch-französischen Gemeinschaftsprojekt wurde in den 70er Jahren das Flugabwehrsystem ROLAND entwickelt, welches als voll mobiles System zum Schutz wichtiger Stützpunkte diente, wie beispielsweise Fliegerhorste oder Marinestützpunkte. Eingesetzt werden konnte ROLAND bis zu einer Höhe von maximal 5.000 Meter. Die Indienststellung der Gemeinschaftsentwicklung erfolgte ab 1977. Andere Länder wie beispielsweise Argentinien, Brasilien, Frankreich, Nigeria, Katar, Spanien, Venezuela und die USA führten das Flugabwehrsystem ebenfalls ein. Aufgrund veränderter Bedrohungslage nach dem Kalten Krieg wurde das Waffensystem nicht mehr als zeitgemäß erachtet. In den Ausführungen als Ketten- oder Radfahrzeug war ROLAND bis 2003 bzw. 2005 bei der Bundeswehr im Einsatz. Insgesamt wurden circa 650 Systeme mit über 25.000 Raketen hergestellt.

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PATRIOT

Ende der 60er Jahre begann in den USA die Entwicklung des Systems PATRIOT, welches 1984 bei den amerikanischen Streitkräften eingeführt wurde. Bei der Bundeswehr wurde das System 1990 eingeführt und ist heute noch im Einsatz. Weitere Staaten wie u.a. Griechenland, Spanien, Polen Israel, Niederlande, Ägypten und Taiwan entschieden sich ebenfalls für das System. Ursprünglich als Flugabwehrsystem gegen Flugzeuge geplant erfolgte die Erweiterung zu einem System zur Abwehr von Marschflugkörpern sowie taktischen Kurz- und Mittelstreckenraketen. Die Reichweite der PATRIOT liegt je nach Version zwischen 15-45 km, bis 70 km oder bis 160 km. Ausgestattet mit einem Gefechtskopf, der je nach Variante zwischen 73 und 91 kg konventionellen Explosivstoff trägt, liegt die Marschgeschwindigkeit bei bis zu Mach 5 (6.000 km/h bzw. ca. 1.600 m/sec). Nach mehreren Kampfwertsteigerungen zählt das System zu den modernsten der Welt. Anforderungen an ein leistungsfähigeres Luftverteidigungssystem führten schon frühzeitig zu Überlegungen entweder PATRIOT Kampfwertsteigerungen zu unterziehen, was auch gemacht wurde, oder ein neues System zu planen. Die Planung heißt: MEADS.

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MEADS

MEADS wurde bereits im Jahr 1987 von den Bündnisnationen USA, Deutschland, Frankreich und Italien initiiert. Frankreich zog sich 1996 aus der Planung zurück. Die ursprüngliche Planung im Jahr 1987 sah vor MEADS ab 2012 bei den Streitkräften einzuführen. Es soll deutlich herausgestellt werden, dass die ursprünglichen Grundlagen zur Einführung von MEADS noch weit vor dem Fall der Mauer und weit vor Beendigung des Kalten Krieges entstanden – als Ergebnis damaliger Analysen der Bedrohungslage somit durchaus verständlich. Abgelöst werden sollten die Systeme PATRIOT, HAWK und ROLAND. Dass die politischen Entwicklungen zwischen den beiden großen Blöcken Warschauer Pakt und NATO seit 1989/90 anders abgelaufen sind und zu einer Entspannung geführt haben, ist mittlerweile Geschichte. Dass 1987 noch vorhandene Bedrohungspotential zwischen Ost und West ist heute – 23 Jahre später – nicht mehr vorhanden. Und die Vorlaufzeiten, um ein vergleichbares Bedrohungspotential wie zur Zeit des Kalten Krieges zu erreichen und einen Angriffskrieg im herkömmlichen Sinne zu führen, betragen zwischen 10 und 15 Jahre. Darin sind sich Militärexperten einig. Dies bietet wiederum genügend zeitlichen Spielraum Gegenmaßnahmen gegenüber einem potentiellen Aggressor einzuleiten.

Aber dennoch ist die ein- oder andere Interessenseite bemüht ein System wie MEADS bei der Bundeswehr einzuführen. Das Projekt MEADS soll zu 58% von den USA, zu 25% von Deutschland und zu 17% von Italien bezahlt werden – aus Steuermitteln versteht sich. Nach unterschiedlichen Angaben werden sich die geschätzten Kosten für die Anschaffung von MEADS bei der Bundeswehr auf 2,85 Mrd. Euro belaufen; der Bundesrechnungshof rechnet in einem Gutachten mit mehr als 6 Mrd. Euro und Experten gehen sogar von 10 Mrd. Euro aus.

Welche drei wesentlichen Kernargumente werden von interessierter Seite ins Feld geführt, um das System MEADS zu entwickeln, dann zu bauen und dann irgendwann bei der Bundeswehr einzuführen?

1. Argument / Fähigkeitslücke: Abwehr von Bombern, Jägern, Hubschraubern, unbemannten Flugzeugen und taktischen Mittelstreckenraketen im Abwehrumfeld von Deutschlands Grenzen in einer Entfernung von 100/150 km bis 1.000 km.

Beurteilung der Fähigkeitslücke: Die Grundlage der Bedrohung fehlt und ist nicht einmal ansatzweise erkennbar. Im Sinne der ursprünglichen Einführungsabsicht zur Zeit des Kalten Krieges mit dem Warschauer Pakt als Kriegsgegner existiert keine Fähigkeitslücke. Im gesamten Umfeld Deutschlands existiert kein Staat in einem Radius von 1.000 km, der als potentieller Angreifer in Frage kommt und eine militärische Bedrohung durch einen Luftangriff für Deutschland darstellt.

2. Argument / Fähigkeitslücke: Abwehr von sonstigen Bedrohungen aus der Luft durch Proliferation sowie Massenvernichtungsmitteln.

Beurteilung der Fähigkeitslücke: Was immer unter „sonstigen Bedrohungen“ verstanden werden soll: Sämtliche bekannten Angriffe und Anschläge der vergangenen Jahre wurden in einer Art durchgeführt, wo ein Luftverteidigungssystem wie MEADS unwirksam gewesen wäre und auch nicht hätte eingesetzt werden können, abgesehen davon, dass der weit überwiegende Anteil der Angriffe – speziell in den Einsatzgebieten – nicht aus der Luft, sondern erdgebunden erfolgte. Die Anschläge vom 11. September 2001 mittels der entführten Luftfahrzeuge hätten rein theoretisch zwar von einem Luftverteidigungssystem wie MEADS abgefangen werden können – doch nur in der grauen Theorie. Eine FREUND-FEIND-Kennung (IFF) hätte bei diesem Angriff zu keinem Ergebnis geführt. Und erschwerend: Wer hätte den „Abschußbefehl“ für die vier Flugzeuge gegeben, die sich auf irregulärem Kurs befanden?

Ein Luftverteidigungssystem wie MEADS oder auch andere ist für eine solche Bedrohungslage denkbar ungeeignet. Bei solchen Bedrohungslagen wie am 11. September 2001 hilft nur der Alarmstart von schnellen Abfangjägern und weitergehenden damit verbundenen Maßnahmen. Selbst in Israel, wo seit Jahren in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Raketen unterschiedlicher Bauart und Provenienz aus dem Gaza-Streifen einschlagen, wie z.B. die Qassam-Rakete, ist nicht ein einziges Raketen-Abfangsystem zum Einsatz bzw. zur Wirkung gekommen und hat solche Angriffe in der Luft abgefangen. Ein solcher Schutz wäre auch nicht mit MEADS möglich. Für diese Art von Nahbereichsbedrohung durch die Luft sind andere Abwehrsysteme einzusetzen.

3. Argument / Fähigkeitslücke: Schutz von Soldaten bei Auslandseinsätzen durch das mobile MEADS-System u.a. gegen Massenvernichtungsmittel.

Beurteilung der Fähigkeitslücke: Es scheint sowohl der Rüstungsindustrie als auch Militärplanern im BMVg als auch diversen Politikern bei der Analyse von Anschlägen bzw. Angriffen auf unsere Soldaten im Auslandseinsatz offensichtlich entgangen zu sein, dass alle Arten von Angriffen in den vergangenen Jahren mittels diversen IED-Mechanismen, Granatbeschuss (Mörser), ungelenkten Kleinraketen einschließlich RPG oder mit selbstsuchenden Boden-Luft-Raketen wie STINGER oder STRELA oder mit konventionellen Schusswaffen erfolgten. Auf die bereits genannten Aspekte bzw. verwendeten Waffen der vorhergehenden Aufzählung sei verwiesen.

Es soll hier nicht näher betrachtet werden, ob darin Ignoranz der tatsächlichen Bedrohungslagen im Auslandseinsatz zu sehen ist, oder gebündelte Inkompetenz in der Beurteilung von Bedrohungslagen oder politisch nicht gewollte, unangenehme Zur-Kenntnisnahme von realen Sachverhalten im Einsatz. Möglicherweise ist die Argumentation auch nur purer Lobbyismus. Zum Schutz von Soldaten in Auslandseinsätzen gehören andere geforderte und längst bekannte Maßnahmen für die noch zu schließenden Fähigkeits- und Sicherheitslücken. Es müssen die seit Jahren vorliegenden Einsatzberichte von den politisch Verantwortlichen nicht nur gelesen, gelocht und abgeheftet, sondern konsequent und zeitnah umgesetzt werden. Alles andere ist politisch hochgradig verantwortungslos und müsste im Rahmen einer Amtshaftung strafrechtlich geahndet werden.

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Folgerungen

In den diversen Analysen und umfangreichen Reporten, die über MEADS in den vergangenen Jahren verfasst wurden, wurden eine Vielzahl von Punkten und auch technische Sichtweisen aufgeführt – Pro und Contra. Für eine Bewertung für den nationalen Sicherheitsbedarf – hier also der Bundeswehr bzw. der Grund und Boden der Bundesrepublik Deutschland – sind  jedoch die drei vorgenannten Kernpunkte zur Betrachtung möglicher Fähigkeitslücken mehr als ausreichend. Ergebnis: MEADS ist nicht sinnvoll für die Anschaffung in der Bundeswehr.

Insbesondere unter den Gegebenheiten haushaltspolitischer Sachzwänge muss um so mehr darauf geachtet werden, dass keine „nice-to-have“-Systeme bei der Bundeswehr eingeführt werden, gleich mit welcher kunstvollen Argumentation die beteiligten Befürworter zur Einführung des MEADS-Systems sich stark machen. „Verlust von Kernfähigkeiten“ wird beispielsweise gerne genommen oder auch auch „fehlende Integration bei der vernetzten Operationsführung in der Luftverteidigung“ oder „es trägt zur Reputation gemeinsamer transatlantischer Entwicklungen bei“.

Allein der Versuch einer solchen Darstellung zeugt von wenig vernetztem Denken der Sachvortragenden, denn die Bundeswehr ist nur ein Teil im Gesamtsystem NATO. Und wer heutzutage immer noch die Auffassung vertritt, dass jede Streitkraft in einem Bündnis wie die NATO gleichzeitig auch über jede Art von Verteidigungs- oder Angriffssystemen verfügen muss, scheint die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre offensichtlich verschlafen zu haben. Es ist somit zwingend erforderlich nunmehr von „Fähigkeiten“ zu sprechen, die innerhalb der NATO vorhanden sein müssen. Doch nicht jede Fähigkeit muss zwangsläufig in jedem Land und bei jedem Bündnispartner vorgehalten werden und vorhanden sein. Denn dies ist  finanziell nicht leistbar.

Nicht nur in der NATO bzw. bei anderen NATO-Partnern reagiert der Rotstift mangels Geld in den öffentlichen Kassen. Selbst NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat innerhalb der NATO-Behörde Reorganisation und Rationalisierung vorgegeben. Um dennoch bestimmte Fähigkeiten abzubilden, die innerhalb der NATO als grundsätzlich erforderlich erkannt wurden, muss also deutlich umgedacht werden: Dies wird nicht ganz ohne Schmerzen und ohne lautes Geschreie aller Beteiligten umzusetzen sein. Das weiss auch Rasmussen.

Bezogen auf das System MEADS heißt das in Konsequenz: Wenn die NATO weiterhin zu dem Ergebnis kommt, dass ein System wie MEADS oder auch ein anderes, vergleichbares System sinnvoll ist zumindest an den geographischen Außengrenzen des Verteidigungsbündnisses zu stationieren und bereits im Vorfeld die gigantischen Entwicklungskosten eines solchen milliarden­schweren Systems zu bezahlen sind, muss die Frage gestellt werden: Welche Länder an den Außengrenzen der NATO sind bereit dies zu tun? Und noch viel wichtiger: Können diese Länder die Kosten überhaupt tragen? Schnell wird auch hier der Wunsch von der harten Realität des Alltags eingeholt.

Was den grundsätzlichen „Verlust von nationalen Kompetenzen bei der Luftverteidigung“ anbelangt, der bei MEADS oder auch bei jedem anderen beliebigen System in den Streitkräften argumentativ in die Runde geworfen werden könnte, muss man organisatorisch relativieren: Die NATO wird aus finanziellen Gründen nicht umhinkommen Kompetenzcenter für bestimmte militärische und zivil-militärische Fähigkeiten aufzubauen, die von allen Bündnispartnern genutzt werden können und als Multiplikator für das Know How in dem jeweiligen Fähigkeitsbereich dienen. Es bleibt den NATO-Bündnispartnern selbstverständlich unbenommen im eigenen territorialen Bereich Kompetenz­center zu errichten – sei es „Ableger“ des jeweiligen NATO-Kompetenzcenters oder mit eigener Spezialisierung.

Wenn an dieser Stelle von Kompetenzcentern der NATO die Rede ist, so könnte dies selbstverständlich auch im Rahmen einer Betrachtungsweise der EU vorstellbar und möglich sein. Denn zukünftig wird stärker als es in der Vergangenheit je der Fall war nur noch von „Fähigkeiten“, von „capabilities“ gesprochen werden. Dies bedeutet: Die „altgedienten“ üblichen militärischen (Denk)-Strukturen (Division, Brigade, Bataillon) werden Schritt für Schritt „Fähigkeitskommandos“ weichen. Die Anzeichen für solche Veränderungen sind bereits seit längerem sichtbar. Dies gilt ohne Ausnahme auch für die Luftverteidigung.

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Weitere Fußfallen

MEADS ist wie viele andere militärische Systeme, die bereits eingeführt wurden oder noch eingeführt werden, nicht nur ein technisch komplexes und anspruchsvolles System, welches zum heutigen Zeitpunkt bezüglich der tatsächlichen, entstehenden Kosten nicht einmal ansatzweise vollständig kalkuliert werden kann, sondern beinhaltet gemäß diversen Quellen auch noch weitere, unschöne Risiken. Diese sind:

Erstens, aufgrund von vertraglichen Vereinbarungen zwischen den amerikanischen Vertragspartnern und den europäischen Vertragspartnern bzw. Herstellerfirmen müssten bestimmte amerikanische Technologien, die für die Gesamteinsatzfähigkeit des Systems MEADS erforderlich sind, von den europäischen Vertragspartnern hinzugekauft werden. Das würde zusätzlich das System MEADS in unbekannter Höhe bei den Streitkräften, wo es eingeführt werden soll, verteuern.

Zweitens, die amerikanischen MEADS-Vertragspartner behalten sich ausdrücklich vor, einem möglichen zukünftigen Export von MEADS in andere Länder die Zustimmung zu geben oder zu versagen. Dies kann unter Umständen zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen führen, denn der Rüstungs- und Verteidigungssektor ist hart umkämpft. Politische, strategische oder geopolitische Interessenlagen spielen zudem immer mit eine Rolle.

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Final

Unter dem Aspekt, dass MEADS – wie weiter oben ausgeführt – nicht für die Bundeswehr benötigt wird, zudem noch unbekannte finanzielle Risiken durch die amerikanische Partnerseite drohen und weiterhin Exportbehinderungen für ein solches zukünftiges System bereits heute erkennbar sind, bleibt nur die finale Entscheidung: Es lohnt sich nicht mehr seitens der Bundeswehr bzw. der Bundesregierung in MEADS Zeit, Gedanken und Steuergelder zu investieren. Es wäre schlichtweg Verschwendung. Und Verteidigungsminister zu Guttenberg hat wieder einen Ansatzpunkt mehr zu sagen: Hier wird eingespart. Denken in liebgewonnen, alten Mustern ist überholt, antiquiert und zeugt von dringend erforderlichen Veränderungen. Diese beginnen zunächst im Kopf: Mens agitat molem.

Ralf R. Zielonka
28. Juli 2010

2 Antworten

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  1. Ralf Zielonka said, on 09/08/2010 at 15:24

    Werter Kamerad Hermann, lieber Peter,

    danke für Deine Einschätzung und Bewertung des Artikels.

    Ich möchte nicht verhehlen, dass es auch andere Kommentierungen von unbekannten Lesern zu dem MEADS-Artikel gibt. Beispielsweise das GeoPowers Journal hatte mich gebeten den Artikel ebenfalls auf seinen Webseiten veröffentlichen zu dürfen. Dem habe ich zugestimmt. Unter der Schlagzeile

    MEADS in der Diskussion
    http://www.geopowers.com/denken-alten-mustern.html

    finden sich dort einige anonyme Kommentierungen wieder, die ich nur als eingeschränkt seriös erachte, denoch diese aufgegriffen, analysiert und kommentiert habe. Es bleibt abzuwarten, ob die anonymen „Kommentierer“ genügend Rückgrat zeigen und mit qualitativ verifizierbaren Aussagen eine weitere Stellungnahme zu meinen Fragen abgeben.

    Mit kameradschaftlichen Grüßen

    Ralf R. Zielonka

  2. Peter J Hermann said, on 29/07/2010 at 21:40

    Werter Kamerad Zielonka, lieber Ralf R.,

    wie immer ein von Dir fundierter und realistischer Bericht wofür ich Dir sehr dankbar bin. Als Major d.R. und stv. Landesvorsitzender des Verbandes der Reservisten bist Du ein großes Vorbild in Sachen medienbewusster Berichterstattung. Hierfür meinen Dank.

    Mit kameradschaftlichen Grüßen
    Peter J Hermann, Gefr. d.R.


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